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Gott braucht uns nicht zur Befreiung Palästinas – Frohe Pfingsten

23:23 - May 19, 2021
Nachrichten-ID: 3004267
Einmal mehr hat der Innenminister Seehofer mitten im Monat Ramadan Verbote gegen gemeinnützige Vereine erlassen, die allerdings dieses Mal erst nach dem Monat Ramadan zu Hausdurchsuchungen führten. Obwohl die Beschuldigten noch gar nicht angehört wurden, steht z.B. für den niedersächsischen Innenminister fest, „dass die nun verbotenen Vereine Ersatzorganisationen des 2014 verbotenen Spendensammelvereins „Waisenkinderprojekt Libanon e.V.“ (kurz WKP) sind, da sie die verfassungswidrigen Bestrebungen des Vereins an dessen Stelle weiterverfolgen (vgl. § 8 Abs. 1 VereinsG).“ [1] Eine Unschuldsvermutung gibt es schon lange nicht mehr gegen muslimische Vereine, und die Gewaltenteilung ist mit Verbotserlassen aus einem Ministerium, ohne dass es jemals ein Gerichtsverfahren gab, bei dem sich der Beschuldigte hätte verteidigen können, absurd geworden. Die Main-Stream-Medien spielen dieses Spiel immer artig mit und verstärken es sogar noch, wenn es um Israel geht. Denn Israel darf alles, ohne jemals Konsequenzen für Verbrechen aus dem Westen fürchten zu müssen.

Ein Beitrag von Yavuz Özoguz

Das aktuelle Vereinsverbot (datiert 30.4.2021) ist offensichtlich einzureihen in die Vorliebe des Bundesinnenministers, den muslimischen Monat Ramadan zu stören. Völlig unabhängig vom aktuellen Fall wird damit die in Demokratien und Rechtsstaaten gültige Unschuldsvermutung ad absurdum geführt, denn nach dem Verbot muss der Angeklagte eine Unschuld beweisen und nicht der Kläger die Schuld. In diesem speziellen Fall ist allerdings festzustellen, dass die betroffenen Vereine seit mindestens einem Jahr keinerlei Aktivitäten mehr durchführen konnten, da die Corona-Bestimmungen das nicht erlaubt haben.

Die Behauptung, dass die betroffenen Organisationen Waisenkinder der Hizbullah unterstützen würden, ignoriert historische Fakten. Im Jahr 2000 hat Israel den von ihnen mit Hilfe der Westlichen Welt völkerrechtswidrig besetzten Süden des Libanon verlassen, weil die Verluste durch den libanesischen Widerstand zu groß geworden waren. Nehmen wir einmal an, dass genau zu jenem Zeitpunkt ein Kind geboren worden ist, dessen Vater beim legitimen Einsatz gegen die Besatzungsmacht getötet wurde, so wäre jenes Kind heute 21 Jahre alt. Auch die durch die im Jahr 2006 erfolgten kriegsverbrecherischen Bombardements des Libanon durch Israel entstandenen Waisen sind nunmehr mindestens 16 Jahre alt. Seither sind keine Handvoll libanesische Widerstandkämpfer (ob von Hisbollah oder anderen Organisationen) gestorben. Insofern würde es überhaupt keinen Sinn machen, für deren Kinder mehrere Spendensammelaktionen noch dazu international zu starten. Allerdings dürfte es auch in Deutschland bekannt sein, dass weite Teile des Libanon inzwischen zu den ärmsten Gebieten der Welt gehören und durch Misswirtschaft, Korruption und zahlreiche Unfälle (z.B. die Hafenexplosion) zahlreiche Waisenkinder entstanden sind, die nichts mit einem Widerstand gegen Israel zu tun haben. Zudem muss der Libanon tausende Waisenkinder aus Syrien versorgen, die Opfer der von der Westlichen Welt unterstützten sogenannten „Opposition“ geworden sind, die vor allem aus den IS-Terroristen bestand. Bis heute werden sie vom Westen unterstützt, wenn auch mit abnehmendem Erfolg.

Auch scheint die Behauptung, die aktuell verbotenen Organisationen seien Nachfolgeorganisation eines bereits 2014 verbotenen Vereins zumindest hinterfragungswürdig. Wenn das nachweislich so wäre, warum hat die Bundesrepublik sieben Jahre benötigt, um das festzustellen, und warum verbietet sie die Organisationen ausgerechnet in einer Zeit, in der seit über einem Jahr keinerlei Aktivitäten mehr registriert wurden?

Deutschlands Politik, Medien und Verantwortungsträger sind der Meinung, dass Israel seit 70 Jahren Besatzungsmacht sein darf, ohne jegliche Konsequenzen dafür befürchten zu müssen. Deutschlands oberste Verantwortungsträger sind der Meinung, dass Israel für 10 eigene Tote Zivilisten 250 Zivilisten in Gaza töten darf, weil das zur Selbstverteidigung Israels gehöre. Auch international zu Kriegsverbrechen zählende kriegerische „Strafaktionen“ werden Israel zugebilligt. Deutschland Eliten sind der Meinung, dass im völkerrechtswidrig besetzten Teil Jerusalems eine ethnische Säuberung stattfinden darf, ohne dass Deutschland jemals dafür Israel Konsequenzen androhen würde. Unter solchen Rahmenbedingungen ist jegliche Diskussion über einen zukünftigen möglichen Frieden in der Region hinfällig. Gemäß den Vorgaben der mit Gewalt herrschenden Kolonialisten haben die Palästinenser nur zwei vom Westen angebotene Optionen, entweder Auslöschung oder Versklavung.

Während die Palästinenser in Palästina auf diese Optionen zunehmend mit Gewalt reagieren, geraten Muslime in Deutschland, die religionsbedingt grundsätzlich auf der Seite der Unterdrückten stehen und nie auf der Seite der Unterdrücker, in zunehmende Sorge, was sie denn überhaupt noch tun können, um den Unterdrückten dieser Welt zu helfen? Jegliche friedliche Hilfe für Palästina gilt als Antisemitismus und alles andere als Terrorismus. In dieser unlösbaren Wahl zwischen Antisemitismus – der im Islam verboten ist – und Terrorismus – der im Islam ebenfalls verboten ist – stehen die Sympathisanten hilflos vor einem Gegner, der alles darf. Während Israel an der militärischen Front alles darf, dürfen Deutschlands Verantwortungsträger jeden Bürger, der die Verbrechen Israels anprangert, an den Pranger stellen und öffentlich erniedrigen. Die pro-zionistischen Medien beschuldigen nahezu jeden Muslim, sozusagen von Natur aus antisemitisch zu sein und Israel zu hassen. Es ist verwunderlich, dass in solch einer Atmosphäre – Gott sei Dank – so wenig Unheilvolles in Deutschland geschehen ist und wohl vor allem der Besonnenheit der muslimischen Verantwortungsträger zuzuschreiben, die Hass nicht mit Gegenhass zu beantworten versuchen, sondern mit Vernunft.

Bei weniger erfahrenen deutschen Muslimen tritt eine zunehmende Sorge über die eigene Zukunft in Deutschland zutage, die durch die immer absurder und unterdrückerischer werdenden Corona-Maßnahmen verstärkt wird. Die sogenannten Freiheitlich-Rechtlichen sprechen immer mehr von Zwang und nicht nur bei der Zwangsimpfung und Zwangsausweisung. So wissen viele gar nicht, was sie tun sollen, wenn eines Tages auch bei ihnen Polizisten vor der Tür stehen und ihre Laptops, Festplatten, Handys und sämtliches Bargeld mitnehmen. Wie sollen sie danach noch ihre beruflichen Tätigkeiten ausüben? Wie sollen sie sich danach noch für Frieden und Gerechtigkeit engagieren? Wie sollen sie danach den seit 70 Jahren unter Besatzung lebenden Palästinensern in Deutschland eine Stimme verleihen? Derartige Fragen kann man sich zu Hunderten stellen. Aber alle jene Fragen gehen von einer Grundvoraussetzung aus, die mit dem Lebensziel nichts zu tun hat! Hier schwingt der Gedanke mit: ICH tue diese Dinge. Ich engagiere mich. Ich stehe den Palästinensern zur Seite. Ich sammle Spendengelder. Ich bringe ein Buch heraus. Ich drehe ein Video. Ich schreibe diesen Text usw.

Tatsächlich ist es aber anders! Es ist einzig und allein der Schöpfer allen Seins, der wirkt. Wir haben lediglich die Gnade erhalten mitwirken zu dürfen. Im Heiligen Quran heißt es zu einem Menschen, der etwas geworfen hatte: „Und nicht du hast geworfen, als du geworfen hast, sondern Allah hat geworfen, …“ [2] Das ist ein Verständnis über unser Dasein, das den Unterschied zwischen Dankbarkeit und Undankbarkeit ausmacht. Ergibt sich ein Mensch hinreichend, spricht er mit der Zunge Allahs, sieht mit den Augen Allahs, hört mit den Ohren Allahs, wirkt (und wirft) mit den Händen Allahs usw. Und ergibt er sich nicht, sind seine Taten ohnehin nichtig.

Niemand soll aus Wut, Rache, Ärger, Zorn und ähnlichen Gefühlen um seiner „Selbst“ willen etwas tun. Sein eigener Wille führt in die Irre. Vielmehr ist die Unterwerfung in Gottes Willen der Schlüssel zur wahren Befreiung von allen irdischen Unterdrückern. Wenn wir also an der Seite der Palästinenser stehen, dann nicht, weil wir gegen Juden oder gegen Israelis oder gar gegen Unterdrücker von uns aus sind! Vielmehr versuchen wir unserer Menschlichkeit, unserer menschlichen Natur entsprechend das Ziel der ewigen Glückseligkeit vor Augen um Gottes Willen an der Seite der Unterdrückten zu stehen. Das ist nicht nur ein Gebot des Islam, sondern der Menschlichkeit eines jeden Menschen, der sich seiner menschlichen Natur nicht entfremdet hat. Im erlaubten Rahmen setzen wir uns für das unterdrückte Volk in Palästina ein. Andere haben sich für Hilfsbedürftige im Libanon eingesetzt, wiederum Andere helfen den Hungernden im Jemen und in der ganzen Welt. So lange das möglich ist, tun wir es. Kommt aber der Tag, an dem die Polizei vor der Türk steht und der weitere Einsatz nicht mehr möglich ist, dann sind wir von dieser Verantwortung entbunden!

Allah braucht uns nicht, um die Unterdrückten dieser Welt zu befreien. Wir sind es, die es bedürfen zum Heil unserer eigenen Seele an der Seite der Unterdrückten zu stehen und niemals an der Seite der Unterdrücker. Können wir aber nicht mehr auf dem von uns gedachten Weg wirken, dann erhalten wir evtl. die Chance verpasste Gebete aus der Jugend nachzuholen, oder den Quran besser lesen zu lernen, oder mit Kindern mehr zu spielen oder dieses oder jenes? Vielleicht werden wir von allem entbunden und können uns auf das Zwiegespräch mit unserem geliebten Schöpfer konzentrieren. Gibt es nicht unzählige und vielfältige Möglichkeiten des Gottesdienstes an einen Gott, der unseres Dienstes nicht bedarf und uns den Dienst als Gnade schenkt?

Eines dürfen wir niemals vergessen: Das Ziel unseres Lebens ist weder den Libanon noch Palästina noch gar die ganze Welt zu befreien! Das Ziel ist auch nicht für oder gegen jemanden zu sein aus irgendeiner Emotion oder einem Tagesgeschehen heraus. Der insbesondere durch den Monat Ramadan selbsterzogene Muslim steht als Gottesdienst an der Seite der Unterdrückten gegen die Unterdrücker und an der Seite der Entrechteten gegen die Verbrecher um Gottes Nähe anzustreben. Heute sind die Palästinenser, die Entrechteten. Morgen können es schon andere sein.

In diesem Sinn ist es eine der wichtigen Eigenschaften eines gottesehrfürchtigen Menschen vor nichts und niemanden Furcht zu empfinden, außer vor den Konsequenzen seiner eigenen Missetaten. Der Schöpfer, der ihm selbst nach den Missetaten noch Gnade, Reue und Buße anbietet, hat ihn erschaffen, um ihn zu begnaden. „Fürchtet euch nicht“ ist der Kampfruf eines jeden im Herzen Erleuchteten. Fürchtet Euch nicht vor den Zionisten, vor den USA, vor der Westlichen Welt oder gar vor Satan persönlich. Ihr seid erschaffen, um Widerstand zu leisten gegen das Unrecht dieser Welt, um Gottes Nähe anzustreben. Doch dürfen Muslime das Maß der Gerechtigkeit nicht überschreiten, selbst wenn ihre Widersacher schon lange keine solchen Maßstäbe mehr haben.

Wir befinden uns in der Woche vor dem heiligen Pfingsten. Christen – zumindest die wenigen verbliebenen Minderheiten im Land – feiern die Ausschüttung des Heiligen Geistes. Nicht alle Muslime und noch weniger Christen wissen, dass das Pfingstfest auch im Heiligen Quran steht:

„Sag: Herabgesandt hat ihn der Heilige Geist von deinem Herrn mit der Wahrheit, damit er diejenigen festige, die überzeugt sind, und als Rechtleitung und Verheißung für die Ergebenen.“

In diesem Sinn wünsche ich den Christen und uns allen gesegnete Pfingsttage und möge er Erlöser bald erscheinen und Dank an die Jüdin Evelyn Hecht-Galinski für das Geschenk der Maske auf dem Foto. Der Tag, an dem Juden, Christen und Muslime gemeinsam feiern werden, rückt immer näher.

[1] https://www.mi.niedersachsen.de/startsei...sen-200521.html
[2] Heiliger Quran 8:17
[3] Heiliger Quran 16:102

 

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